Die Fünf Tage von Tritonus – Teil 4

Eine zweite Hälfte Dienstag
14:56 Uhr
MITTAGSPAUSE
Die Mittagspause ist ein thailändisches Arbeitsessen mit Danny, Judith, Mark, Jean, Ian, Jörg. Pola hat ja heute frei. Es geht um die Songauswahl, besser: die Auswahl der „Bounces“, die man am Donnerstag übermorgen vorspielen kann. Da kommt nämlich ein Mann von der neuen Plattenfirma der Helden ins Studio auf Besuch und bekommt erstmals neue Musik kredenzt.

Mark bestellt ein Glas Nudelsalat. Wie jetzt? Und vielleicht noch eine Flasche Pommfritz? Ach so: einen Glasnudelsalat.

FAKTUM
„Bounces“ sind aus den bisherigen Ergebnissen flott zusammengebaute – ja: zusammengebouncte – Rohversionen von Stücken. Ein „Bounce“ bildet den Song in seinem aktuellen Zwischenstadium ab. Für den Laien kann sich ein Bounce, je nachdem wie weit die Produktion fortgeschritten ist, anhören wie ein superduper fertiger Song, raus damit und ab in die Charts, yeeaah! Aber das ist natürlich nur ein Bounce. Noch nicht mal ein rough mix.

Dann geht’s um das Plattencover. Es ist noch völlig unklar und unbesprochen, was und wie das werden wird. Jean sagt, er habe keine Lust auf „was Grafisches“. Eher ein Foto. Er hat aber auch keine Lust – und erntet Zustimmung – auf „eine dieser teuren Sessions mit Stylisten, die einen dann in irgendwelche Klamotten packen und einem dann sagen, wie toll das aussieht, weil sie halt die Klamotten schön finden.“ Außerdem gibt Jean zu Bedenken, dass „wir mindestens zwei Leute in der Band haben, die nicht alles tragen können. Pola sieht in Anzügen, wenn ich mich recht erinnere, immer ein bisschen honkig aus. Und ich kann keine engen T-Shirts tragen. “

Judiths Favorit für ein Plattencover, den sie zumindest gern ausprobieren würde, ist eine Hommage an eine Szene aus dem Jim-Jarmusch-Film „Down By Law“. Worauf darf man gespannt sein? Judith verkleidet als Tom Waits? Im weitesten Sinn geht’s da ums „Rumstapfen in Mooren in Brandenburg,“ erklärt Judith.

Mark muss los, er fährt über Nacht heim nach Hamburg. Sie teilen sich die Studiotage so auf und ein, dass einzelne Bandmitglieder möglichst wenig im Studio herumhängen müssen, wenn es für sie nichts Konkretes zu tun gibt. Und Mark hat erst mal sein Zeug für heute im Kasten und geht in den frühen Feierabend.

16:27 Uhr

Zurück im Studio. Judith steckt ihren Kopf aus der Regie: „Wir fangen an.“

Judith macht jetzt mit Ian Gesangsaufnahmen. Für „Die Ballade von Wolfgang und Brigitte“. Von dem Song hat Judith schon erzählt, auf den ist sie besonders stolz. Der Protokollant ist gespannt. Er sei sehr schwer zu singen, sagt Judith. „Mikro-timing-mäßig, intonationsmäßig, atemmäßig.“ Das höre man nicht gleich, aber der Schwierigkeitsgrad werde sich zeigen an der Zahl der Takes, die gebraucht werden.

Erst mal werden „looseners“ gemacht, zwei Durchläufe zum Warmwerden und Lockermachen.

„Als Wolf und Brigitte in die Baerwaldstraße zogen
dachten alle dort, sie wären ein Paar“, singt Judith.

Ian warnt Judith, sie solle sich nicht zu sehr bewegen beim Singen, weil sie sonst Gefahr laufe, zu weit vom Mikrophon wegzukommen. Judith befestigt ihr Textblatt an der Glasscheibe, damit sie beim Singen geradeaus schauen kann. Jetzt verdeckt der Zettel ihr aber den Blick auf Ian.

Judith: „Aber so kann ich dich nicht sehen.“
Ian: „You don’t have to see me.“
Judith: „Yes, I have to see your little hand movements.“

Handbewegungen? Ist Ian hier etwa der Dirigent?

„Haha! Yeah, I do conduct a bit sometimes.“

„Sie hatten zusammen eine Kiste
Nur das mit der Beziehung
war Gitte vielleicht nicht ganz so klar
Und Manfred und Irene waren für alles offen
Und Irenes Arme waren es auch
Und wenn Wolf und Brigitte richtig besoffen waren
schliefen sie auf Irenes Bauch“, singt Judith.

Judith sagt, sie muss sich sehr auf den Text konzentrieren, weil darin so viele verschiedenen Namen vorkommen, „to get all the Wolfs and Irenes and Manfreds in the right places.“

„Und am morgen saßen alle zusammen in der Küche
Und Brigitte kraulte Manfred den Bart
Und Irene stand an der Spüle und sang
nur Wolfgang saß weinend im Bad.“

Es ist wirklich ein sehr berührender Song. Dieser Text zu einem absolut, äh, gorgeous Track. Den Protokollanten piekst es an der Stirn, an dieser Stelle zwischen den Augen, die sagt: Alter, ich heul gleich.

„für das Wahre, Schöne, Gute
will jeder gerne bluten
und fühlen, was es zu fühlen gibt
Es war alles schön und gut
es gibt nichts was man nicht tut
aber Wolfgang hat Brigitte geliebt.“

16.42 Uhr

Nach drei Durchläufen mit dem kompletten Song werden jetzt die Refrains weggelassen und es wird systematisch an den Strophen gearbeitet, eine nach der anderen. Judith hat noch Schwierigkeiten, richtig in den Song bzw. ihren Gesang reinzufinden. „I think I know what to do, but I just can’t do it.“

Die erste Strophe. Ein Durchlauf. Noch ein Durchlauf.

Judith: „I think there was a little frog in the middle.“
Ian: „Yeah, I heard it.“

Die erste Strophe zum dritten Mal.

Ian: „Better, better. I like the way you slur the lyirc, after the ‚küke’ line.“

The küke line? Ah, „und am Morgen saßen alle zusammen in der Küche“.

Die erste Strophe zum vierten. Das Musik-Playback, zu dem Judith singt, läuft immer vollmelodisch dahin, bricht dann nach jedem Strophen-Take weg und lässt einen in der Luft hängen. Als Zuhörer wird man nach dem vierten, fünften Durchlauf langsam unruhig, weil man ständig vergeblich auf den auflösenden Refrain wartet. Aber der kommt jetzt erst mal nicht.

Nach dem fünften Take sagt Ian die magischen Worte: „Okay, one for luck.“

Jetzt die zweite Strophe.

„Im dritten Jahr lernten sie die Wellen zu reiten
nur Wolfgang lernte Fotografieren
auf den Fotos spielen die Kinder im Sand wie bei Bob Dylan
und Muscheln fallen aus ihrer Hand“, singt Judith.

Ian meint, Judith wirke bei dieser Strophe kurzatmiger als bei der ersten Strophe. Judith weiß, warum: „There’s more words in it.“

„Wenn die anderen längst schon im Zelt lagen und schliefen
saß Wolfgang alleine am Strand“

17:12 Uhr

Letzte Strophe.

Ian: „Okay. Last verse. Just think Gainsbourg a little bit.“
Judith: „Like yesterday.“

Genau. Wenn gestern an Serge Gainsbourg denken gut war, dann kann es heute doch nicht schlecht sein.

„Dann zog Brigitte nach Ibiza und verkaufte Batiksachen
Wolf kündigte, um bei ihr zu sein …“

Ian rät, Judith sollte die ersten Zeilen etwas mehr in einem sprechenden Ton singen. Diese Strophe sollte sich seiner Meinung nach anfühlen, „wie eine alte Postkarte mit verblichenen Farben und Eselsohren, die du auf einmal wieder irgendwo ausgegraben hast“.

„It’s more about the lyric than the melody, this one“, sagt Ian, der von allen Texten englische Übersetzungen hat. Und es geht darum, in Judiths Vortrag (um mal das Wort „Performance“ zu vermeiden) in den Strophen die richtige Balance zwischen Erzählen und Singen zu finden.  Auch darin, wie sich die Stimme zur Musik verhält. Die Stimme wird sozusagen im Song eingerichtet, wie ein gutes Möbelstück, das man in einem Raum aufstellt und immer noch ein Stückchen nach vorn, ein Stückchen zur Seite rückt. Bis es zu bestmöglichem Effekt platziert ist.

Ian meint, jetzt wär es bald im Kasten. Judith ist sich nicht so sicher. „It’s so difficult, I really feel I have to internalise the whole thing and then really sing it.“

17:24 Uhr

Judith hat einen Take verhauen, ihr Gehirn hat sie abgelenkt. „There was a baby thought crossing my mind.“ Und da ist sie rausgeflogen.

17:33 Uhr

Judith singt zum etwa 15. Mal die dritte Strophe. Ian hat aus dem Track das Piano von Jean zugeschaltet, das bisher offenbar weggeschaltet war. Das hilft. „It makes me feel not that alone“, sagt Judith.

Und noch zwei Takes. Und noch zwei.

Ian dirigiert tatsächlich leicht. Kleine Fingerzeige an neuralgischen Stellen im Text. Manchmal spricht oder singt er in einem lustigen Quasideutsch kleine Textpassagen an, um eine Anmerkung zu einer Betonung oder Intonation eines Wortes oder einer Satzpassage zu verdeutlichen. „Can you make sure that ‚sagte’ is up there with ‚Gitte’, energy-wise?“ – „You got it. You got it on the ‚schwerem Gepäck’.“

Noch zwei Takes der dritten Strophe.

Ian: „It’s great. I don’t understand a word but I get every line, if you know what I mean.“

Und noch einen.

Ian: „I think I probably got it, but one for luck, okay?“

17:42 Uhr

Jetzt möchte Judith noch mal ein paar Mal die zweite Strophen probieren, mit der sie vorhin nicht glücklich war. With the Joanna. Das Joanna soll zugespielt bleiben. Das Joanna ist das Klavier. Der Protokollant rafft null und lässt sich erklären, dass im angelsächsischen Studioslang das Piano gemeinhin „Joanna“ genannt wird. Das ist der

„Und sie fuhren nach Südspanien
um ihren Horizont zu weiten
und das letzte Bisschen Muff zu verlieren“

Ian „dirigiert“ jetzt mit dem ganzen Oberkörper: Er versucht Judith timing-mäßig zu „pushen“, „by swaying“, indem er sich quasi sitztanzend auf seinem Stuhl wiegt. Er sitzt an seinem Computer und seinem Block, hat Blickkontakt zu Judith hinter der Glasscheibe und groovt und bewegt sich zur Musik.

Ian: „Wicked. It just gets better every time. It’s really cooking.“
Judith: „In a weird way this really gets the gospel thing going.“

Noch ein Versuch.

Ian sieht sich am Ende seines Swaying-Lateins.

Ian: „Okay, my swaying has gone over the hill now. It peaked. Luckily we have the track. Next time I’ll do the old (klatscht) again.“

17:52 Uhr

Jetzt noch mal die erste Strophe ein paar Mal. Dann kleine Stillpause.

18:11 Uhr

Weiter geht’s. Jetzt kommen die Refrains. Judiths Stimme ist jetzt voll aufgewärmt und am Start. Das dauert ein halbe Stunde, da führt kein Weg vorbei. Aber jetzt kann’s mal so richtig losgehen. „Sway me through this“, ruft Judith Ian zu, uns los geht’s wieder. Ians „swaying“ ist mitnichten over the hill. Ian, das menschliche Metronom? He can do the German sway as well. Or the English sway?

Judith möge sich aber selber swayenderweise zurückhalten und am Mikro bleiben.

Ian: „As much as I sway like Stevie Wonder now, you’ll have to fairly stay on your mike. I’ll do it all for you. If I get too Stevie, forget me.“

„Es war alles schön und gut
Es gibt nichts, was man nicht tut
Aber Wolfgang hat Brigitte geliebt“

Ian ist noch nicht ganz zufrieden mit der Tönung von Judiths Gesang. „It feels a bit brittle at the moment. It should feel warm. It should cuddle the audience, shouldnt it?“ Okay, noch mal, kuscheliger.

Der Take muss abgebrochen werden, weil der aufgekratzte Jean mit seiner Videokamera für den Podcast rumläuft, Ian ins Visier nimmt – und ihn total aus seinem sway schmeißt. Ian hebt die Hand zur Entschuldigung. „Sorry, I had a camera. I can’t sway with a camera.“

Ian hat zwar ein Textblatt mit deutscher Übersetzung, aber Judith wollte es ihm offenbar trotzdem nicht zu einfach machen: Die Schriftgröße ist ungefähr 4 Punkt, „und es ist in dieser Star-Wars-Schrift geschrieben. Wirklich schwer zu lesen.“

18:27 Uhr

Judith hat gerade im zweiten Refrain bei „aber Wolfgang hat Brigitte geliebt“ eine kleine gesangliche Vignette gemacht, die Ians Spontanapplaus fand, „Oh! Very nice!“. Mal sehen, ob das dann auf der Platte ist.

18:34 Uhr

Eine kleine Zwangspause. Im Stockwerk über dem Tritonus hat jemand angefangen zu hämmern. Unangemeldete Hämmer-Arbeiten – super Idee in einem Gebäude, das mehrere Tonstudios beherbergt. Erst schauen alle ein bisschen ratlos zur Decke und überlegen, was da oben wohl vorgehen mag. Man stellt sich vor: Ein verschwitzter, muskulöser Mann im Feinripp-Unterhemd wie aus einem Frankie-Goes-To-Hollywood-Video schwingt einen riesigen Vorschlaghammer! Wam! Wamwamwam! Wam!!! Dann Pause. Geht’s weiter? Wam! Danny geht nach oben und fragt nach, was los ist. „Er braucht noch fünf Minuten“, sagt Danny, als er zurückkommt. Da oben ist kein Mann im Feinripp-Unterhemd, sondern nur ein Architekturbüro, in dem wohl jetzt zur Abendstund’ wohl einfach mal was gehämmert werden muss. Man steckt ja nicht drin.

Ian erzählt ein bisschen von früher, das heißt: er lässt sich ein paar Sachen aus der Nase ziehen. Seit Mitte der 80er hat er in einer Band gespielt, viele Jahre lang. Sie waren zäh, sie wollten es schaffen, haben ein paar Platten aufgenommen. „Our last record was rubbish“, sagt Ian. Sie waren nach Vancouver gereist, um dort eine total zornige Platte zu machen, „and then it was all sunshine and wonderful weather for three weeks“. Irgendwann hatte sich die Band, die lange zusammen Rock-WG-mäßig in einem Haus gewohnt hatte, auseinandergelebt. Und Mitte der 90er fing Ian, der sich schon immer sehr für Studio-Sachen interessiert hatte („as a musician I’ve always been a bit of a bluffer, really“), an, sich da reinzuarbeiten und machte erste Jobs. Learning by doing. Keine Schule, kein Studium.

18:52 Uhr

In der Küche wird es rapide dunkel; draußen braut sich ein Gewitter zusammen. Jean friemelt an den Videos für den WSH-Podcast herum. Danny hängt an Handy und Laptop gleichzeitig. Judith checkt Mails. Für einen Moment sieht so aus, als würde jetzt die Konzentration verloren gehen – Apple killed the Wir Sind Helden album? – dann kommt Ian rein: „Okay. I’m finished. Finished talking to bastards on the telephone.“ Ian hat mit der Post telefoniert, irgendwas mit seinem Handyvertrag. Mit einer Service-Hotline vermutlich.

18.55 Uhr

Viele Namen in dem Schlussteil, in dem der Refrain in textlichen Variationen wiederholt wird. Da kann man schon mal durcheinander kommen. Ian unterscheidet die Textparts vor allem anhand von Schlüsselwörtern in den Zeilen. Im Auslauf-Refrain wird’s ein bisschen verwirrend, welche Textteile sich an welche reihen. Ian: „There wasn’t a ‚braucht’ in that one, was there?“

19:24 Uhr

Die Lead Vocals sind so ziemlich im Kasten. Ian sagt den magischen Satz: „Cool. One for luck.“

Jetzt werden im letzten Refrain diese ganzen Zeilen „aber Wolfgang hat Brigitte geliebt“, „aber Dieter hat Reinhard geliebt“ etc. gedoppelt, da heißt, Judith singt diese Textzeilen ein zweites Mal drüber. Die Zeilen werden „gedoublet“, was einen großartigen Effekt im Mix hat, wenn man den Kopfhörer aufsetzt, der da immer bereit hängt. Das geht überraschend schnell. Nur zwei Takes. Das war’s schon.

19:28 Uhr

Jetzt kommen noch die Beavis zu den Refrains dazu. Beavis? Butt-Head? Nein, „the B.V.s“. Die Backing Vocals. Ah. Harmoniegesänge. Plötzlich geht da voll die Blüte auf.

19:34 Uhr

Wie? Schon fertig mit Beavis? Nein, das waren jetzt nur die Sketches. Jetzt muss Ian erst mal Comps anfertigen von den Lead Vocals. „That’s how we do it.“

Judith würde jetzt gern noch ein Lied anpacken, weil sie Spaß hat und ihre Stimme warm ist. Draußen wartet allerdings schon das Baby, das gerade mit seiner Sitterin eingelaufen ist. Pola, der heute studiofrei hat, wird angerufen. Der muss jetzt einlaufen und die Kinder-Action übernehmen.

Das Gewitter war übrigens keines. Ist schon wieder weg, blauer Himmel schaut durch.

Kleines Päuschen. Das Baby ist nölig und weint jetzt, als Isa sie anzieht und einpackt für die Heimreise. Judith geht in der Gesangsbox in Deckung, um nicht noch für mehr Aufwühlung zu sorgen. „Achtung, müdes Baby!“

19:54 Uhr

Es geht weiter mit dem Refrain von „Lonely Planet Germany“, einem ziemlich wunderschönen Lied –Mid-Tempo-Ohrwurm par excellence – mit ziemlich kompliziertem Text.

Erst noch kurze Verzögerung: „Vielleicht sollte ich mein Pollenspray nehmen, bevor ich weitermache …“ Judith sprüht, Ian informiert währenddessen über den Lernfortschritt in Sachen deutscher Popkultur, den er gestern noch gemacht hat. Vorgestern war er ja über deutschen Schlager aufgeklärt worden, gestern im Nachtprogramm war dann eine Doku über Peter Maffay dran. „I know everything about him now. Of course I didn’t understand a word of it, but I think I got it.“ Maffay war ja auch Schlager, ganz am Anfang, aber dann hat er sich neu erfunden als Rocker. Nur gibt’s irgendwie nicht viele wirklich rockende Songs von ihm. „Ja“, bestätigt Ian, der so ein Konzert-Special gesehen hat. „With the first song he came out all guns blazing, three guitars and full on rock. But the rest was just ballads.“

20:05 Uhr

Abbruch. Judith musste mitten im Refrain loslachen, weil Jean, der seit ein paar Minuten mit Wespen im Arsch in der Regie herumstromert, an der Wand vor den Songplänen mutwillig angefangen hat zu swayen. Aber eher auf so eine „The Full Monty“-Art, weniger auf eine inspirierende, gesangsstimulierende. Judith stellt klar: „I want Ian to sway and Jean NOT to.“

20:06

Noch ein Versuch. Ian tanzt und swayt entschieden zu wenig für Judith. „Excuse me, I have to see you dance.“ Ian: „The performing monkey …“ Ian scheint das extensive Swayen, das von ihm aus der Gesangskabine gefordert wird, zunächst noch ein ganz klein wenig befangen zu machen, aber er tut es ohne Murren: es ist schießlich der Qualität der Produktion zuträglich.

Jean nimmt das Cover der LP „Everybody Knows This Is Nowhere“ von Neil Young & Crazy Horse, das als Deko auf einem Sims steht, herunter, betrachtet es, beugt sich zum Protokollanten herüber und flüstert: „Sag mal, kann das sein, dass es was zu bedeuten hat, dass  alle richtig guten Platten nur so wenige Songs drauf haben?“ Hm. Wie viele habt ihr denn? „14 Songs. Da müssen wir noch ran. Das wird hart.“ Aber 14 wäre doch okay, nein? „Nee.“ Zwölf? „Elf.“

Die metrische Phrasierung von „this is lonely planet Germany“ am Ende des ersten Refrains sei gerade „a little bit in no man’s land at the moment“, mahnt Ian an.

Und noch mal den ersten Refrain separat. Und noch mal.

20:24 Uhr

Pause. Judith ist gerade das obere Register ihrer Stimme abgehauen. Also Teepause. Ian macht Tee. „Do you want my English Special?“ Schwarztee vom Pyramidenbeutel mit Milch.

Ian kann sein Laptop nicht benutzen, momentan, weil vor zwei Tagen beim DVD-Schauen im Hotelzimmer sein Netzgerät in Flammen aufgegangen ist, neben ihm auf dem Bett. Ja: in Flammen. Das Ding brannte richtig. Wie schön, dass er noch da ist und die Platte produzieren kann und überhaupt.

Jean schaltet am Fernseher herum. Gibt’s denn eine Chance, das Champions-League-Spiel im Free TV zu sehen? Offenbar nicht. Hm. Auf dem Ersten läuft „Um Himmels Willen“. Um Himmels Willen. Es ist nirgendwo zu finden. Wer spielt denn eigentlich? Ach übrigens, Ian: Ist denn überhaupt noch ein englisches Team in der Finalrunde? Ähem. „Nein“, weiß Ian, „eben nicht.“ Und eben deshalb wird der Rest der Champions League auch nicht mehr im Fernsehen gezeigt. „It’s only ugly football now.“

20.48 Uhr

Ian und Judith gehen zurück an die Arbeit. „Lonley plaaanet, looonely planet“. Es fühlt sich auch langsam etwas lonely an hier im Tritonus.

Judith singt in der Schlussspur etwas von „Emertsham“, dem beschaulichen Dorf im Chiemgau. Aber das kann nicht sein. Oder doch? Nein, es geht um „Marzahn“. Na gut.

21:08 Uhr

Are your cans alright?

Jetzt ist Jean in der Gesangsbox für Backing Vocals für die Auslaufspur von „Lonely Planet“. Er muss den Satz „Berlin liebt dich“ immer und immer wieder singen, wie in einem Loop. Und er tut es sehr soft. Sehr soft. Aber nicht soft genug für Ian. „Can you do an even softer one than this?“ Jean singt jetzt sein „Berlin liebt dich“ soooo fluffig soft ins Mikro, dass man sich fast reinlegen möchte, aber das wäre nicht gut für die Wirbelsäule.

Dann geht Ian in die Box und singt ein paar Takte lang „Berlin liebt dich“ ein. Jean ergreift sofort die Gelegenheit, schwingt sich in Ians Stuhl und zu seinem Produzenten auf: „Wait a minute – I’LL tell you when we’re ready … Okay, let’s have a loosener first … Okay, one for luck.“

21:30 Uhr

Die Band Wir sind Helden macht einen gewagten Move, indem sie den anwesenden Protokollanten in der Auslaufspur des Songs „Lonely Planet Germany“ mitsingen lässt. Der muss/darf dann „Berlin liebt dich“ singen, was stimmen mag, aber München liebt dich fei auch! Danach gibt Jean zu bedenken, dass Wir sind Helden doch eigentlich nie Lieder mit falschen Betonungen machen wollten – von wegen „BERlin liebt dich“. Vorschlag des Protokollanten, den Song halt einfach umzutexten, weil „München liebt dich“ super passen würde. Wollen die nicht.

Wir stehen zu dritt – Judith, Jean, moi – im großen Aufnahmeraum, Cans auf der Birne und sollen soft singen. Ian rät uns, ein Ohr von den Kopfhörern freizumachen und mit der freien Spielhand („the Whitney hand“) soulig rumzufuchteln, für maximalen „We Are The World“-Effekt. And it actually does work.

*NACHTRAG: Bei Bearbeitung dieses Protokolles Anfang Juli ist es traurige Gewissheit: Der ziemlich wunderschöne Song „Lonely Planet Germany“ wird nicht auf dem Album zu hören sein! Er ist einer von drei Songs, die aussortiert wurden. Warum nur? An den bestechenden Backing Vocals kann es nicht gelegen haben.

21:47 Uhr

Beratung über den weiteren Fortgang des Abends. Dann überraschende Order von Ian an Jean: „Just get your thing out now.“ Hm. Sollen Judith und der Protokollant sich dann dezent verabschieden? Nein. Ian hat Jeans Laptop gemeint. Es sollen noch ein paar Streichersounds für „Lonely Planet Gemany“ nachgecheckt werden. Das ist zwar auch gut, aber nicht so glamrock wie theoretisch möglich.

Jean hat einen Sound gefunden. Combined violence? Ach, violins. Und Mellotron-Sound. Jean gniedelt was Hübsches. Ian: „That does it for me. It adds a little richness to the thing.“

Ca. 22.00

Judith und der Protokollant gehen heim und überlassen Ian und Jean, die dabei sind, sich mit Keyboardsounds für Overdubs zu „Lonely Planet Germany“ einzugrooven, ihrer Nachtschicht. Im Rausgehen hört man durch die Tür von Studio 2 noch Marianne Rosenberg singen. Hören die da Aufnahmen vom Tage ab oder baggert Marianne so spät noch am Baggerloch?

Fortsetzung folgt …

Nächste Woche an dieser Stelle: Wir Sind Helden hören zum ersten Mal am Stück ihre 14 neuen Songs auf deren bisherigen Stand durch und besprechen die Sachlage, was um ein Vielfaches länger dauert als die Platte selbst. Seien Sie auch dann wieder dabei, wenn „Der Fluch des Wir-Sind-Helden-Knies“ dräut, das Geheimins von „Bart“ („A little bart is good“) enthüllt wird, Jean-Michel Tourette messerscharfe Textanalyse betreibt („There’s an ‚und’ where normally there shouldn’t be an ‚und’ …“) und Pola Roy ein kulturelles Kräftemessen mit dem englischen Produzenten vom Zaun bricht: „Sorry that we have the best language in the world …“